Wenn erwachsene Kinder sich rarmachen
KOLUMNE JESPER JUUL 30. August 2015
Wie viel Nähe verträgt die Beziehung zu einem großen Kind?
Über das Dilemma, das Wichtigste im Leben der Mutter zu sein

Frage
Ich bin Mutter einer 30-jährigen Tochter. Sie wurde von meinem damaligen Mann und mir mit größtmöglicher Liebe und Fürsorge erzogen. Die Trennung von meinem Mann erfolgte auf meine Initiative. Unsere Tochter war damals zwölf Jahre alt. Es hat sich ergeben, dass wir im gleichen Haus in getrennten Haushalten leben konnten. So war der Kontakt zwischen beiden Elternteilen ausgewogen gegeben. Einen großen Teil meiner Freizeit verbrachte ich mit meiner Tochter, sie war damals für mich unglaublich wichtig als Ankerpunkt. Ich habe sehr bewusst darauf geachtet, sie nicht als „Partnerersatz“ zu missbrauchen. Natürlich war sie schockiert über die Trennung. Wir haben es dennoch geschafft, in Freundschaft und Liebe verbunden zu bleiben. Auch heute noch feiern wir alle traditionellen Feste wie zum Beispiel Geburtstage gemeinsam. In den Gesprächen zwischen meinem Mann und mir wurde sie nie als Streitpunkt missbraucht. Es war uns wichtig, dass sie nicht mehr als nötig durch die Trennung belastet wird. Inzwischen ist sie 30 Jahre alt, hat die Freuden und Probleme des Erwachsenwerdens erlebt, studiert und arbeitet, wie ich meine, zu viel. Bei unseren Treffen ist sie unglaublich lieb und mitfühlend, wir sprechen offen und liebevoll miteinander. Doch nun schaffe ich es einfach nicht mehr, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Natürlich weiß ich, dass sie viel zu tun hat und lange arbeitet. Deshalb beschränke ich mich auf unregelmäßige Nachrichten. Oft kommt verspätet eine Antwort und diese fällt meist sehr kurz aus. Ich merke, wie ich in meinen Nachrichten fast unterwürfig werde, mich für die Störung entschuldige und nur um eine kurze Nachricht bitte, weil ich ihre Antwort für etwas dringend brauche. Zum anderen ertappe ich mich dabei, wie ich mich ärgere, dass sie sich nicht meldet und denke darüber nach, mich überhaupt nicht mehr zu melden. Ich gebe zu, dass ich keinen adäquaten Ersatz für die intensive Beziehung zu meiner Tochter gefunden habe, obwohl ich in meiner derzeitigen Beziehung ganz zufrieden bin. Natürlich ist mir bewusst, dass Eltern erwachsener Kinder nicht sehr aufregend oder interessant sind. Ich will ja auch keine große Rolle im Leben meiner Tochter spielen, sondern nur gelegentlich wissen, wie es ihr geht und was ihr im Moment wichtig ist. Ich werden zusehends ratloser. Mein Freund meint sogar, dass ich sie zu sehr bedränge, was ich nicht glaube. Soll ich mich denn ganz zurückziehen und warten, bis sie die Initiative ergreift? Sie ist noch immer das Wichtigste in meinem Leben – oder ist genau das das Problem?

Antwort
Es kann sehr gut sein, dass genau dies die Erklärung Ihres Dilemmas ist und auch der Grund, warum Ihre Tochter das Gefühl hat, sich von Ihnen distanzieren zu müssen. Der Sinn des Lebens einer Mutter zu sein ist einfach zu viel der Bürde. Was Sie ihr gegeben haben, hat Ihre Tochter die ersten 15 Jahre gebraucht. Aber seitdem braucht Sie eine Mutter, die sich viel mehr im Hintergrund hält. Das, was Sie umgehend ändern müssen, ist die Art, wie Sie mit Ihrer Tochter kommunizieren. Sie sind zu unverbindlich, überlegt und höflich. Das macht es ihr unmöglich, eine authentische Kommunikation mit Ihnen zu führen. Sie beide haben zu große Angst davor, sich gegenseitig zu verletzen und damit ihre innige Beziehung zu gefährden. Um das zu ändern, müssen Sie ihr ganz einfach sagen, was Sie von ihr möchten, und Sie bitten, Ihnen ehrlich zu antworten, was sie Ihnen geben möchte. Ihr Fokus lag immer auf den Bedürfnissen Ihrer Tochter. Dessen bin ich mir völlig bewusst. Aber nun ist es Zeit für Ihre Bedürfnisse (in Bezug auf Ihre Tochter). Ihre Tochter ist in keiner Weise dazu verpflichtet, Ihnen das zu geben, was Sie wollen, allerdings es ist niemals zu spät, eine neue Beziehung zu ihr aufzubauen. Diese sollte auf einer offenen und ehrlichen Kommunikation mit einer ehrlichen Botschaft basieren: Seien Sie aufrichtig zu sich selbst!
(Jesper Juul, 30.8.2015) Jesper Juul, geboren 1948 in Dänemark, ist Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er studierte Geschichte, Religionspädagogik und Europäische Geistesgeschichte. Statt die Lehrerlaufbahn einzuschlagen, nahm er eine Stelle als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter an und ließ sich zum Familientherapeuten ausbilden. Er ist Begründer des Family Lab.

Auf derStandard.at/Familie beantwortet Jesper Juul alle zwei Wochen Fragen über Erziehung, Partnerschaft und Familienleben. –
derstandard.at/2000021353444/Wenn-erwachsene-Kinder-sich-rarmachen