Lehre nach der Matura

Noch ist es die Ausnahme, doch jedes Jahr gibt es mehr Jugendliche, die sich nach abgeschlossener Schulbildung für eine Lehre entscheiden.
An der Berufsschule lassen sich nur schwer Fächer aus der Oberstufe anrechnen

Wien – Heute auf dem Menüplan: Saltimbocca alla romana, also gebratenes Kalbsschnitzel mit Salbei und Schinken, dazu Polentaschnitte und mediterranes Gemüse. Als Dessert ein Tiramisu. Der Kochlehrer der Berufsschule Waldegg in Niederösterreich geht das Rezept Punkt für Punkt durch. Vor ihm stehen, aufgereiht und aufmerksam folgend, sieben Kochschüler. Ihre noch kindlichen Gesichtszüge stehen im Kontrast zu den weißen Kochuniformen und Mützen, in denen sie stecken und die sie erwachsen wirken lassen. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass zwei der Lehrlinge ein paar Jahre älter sind als die anderen. Das sind Carlos und Kathrin. Sie haben ihre Lehre nicht mit 15, nach Ende der Schulpflicht begonnen wie die meisten, sondern sich erst nach der Matura für die Kochlehre entschieden.

Wie viele Jugendliche in Österreich wie Carlos und Kathrin nach der Matura eine Lehre anhängen, ist schwer zu sagen. „Leider“, sagt Alfred Freundlinger von der Abteilung Bildungspolitik in der Wirtschaftskammer (WKO), „haben wir zu diesem Thema keine sehr zuverlässigen Daten.“ Man greife für die Statistik auf Selbstangaben zum eigenen Bildungsstand in den Lehrverträgen zurück. Solide Mindestzahlen sind es aber trotzdem, sagt Freundlinger. „Im Zweifel könnten sie etwas höher sein.“

Laut den WKO-Zahlen machten im vergangenen Jahr 509 Absolventen einer Berufsbildenden Höheren Schule (BHS) eine Lehre, bei den Maturanten einer Allgemeinbildenden Höheren Schule (AHS) waren es 817. Lehrlinge, die zuvor studierten, gab es 189. Zusammengerechnet sind das 1.515 Maturanten, die sich danach für eine Lehre entschieden. Im Vergleich zu der absoluten Anzahl an Lehrlingen eine verschwindend geringe Zahl: 2016 waren österreichweit 106.950 Lehrlinge in Ausbildung. Starke Steigerung Und doch ist eine starke Steigerung über die letzten drei Jahre ersichtlich. 2014 – das erste Jahr, aus dem Zahlen zur Lehre nach der Matura vorliegen – waren es nur etwas mehr als halb so viele Lehrlings-Maturanten wie heute.

Kathrin, 22 Jahre alt und aus St. Pölten, hat vor ihrer Lehre zur Köchin ein Jahr BWL studiert. Das war nicht so das Ihre. „Kochen“, sagt Kathrin, „tue ich schon, seit ich acht bin.“ Carlos, 19 Jahre alt und aus Wien, stand hingegen schon eine Woche nach der Matura in der Küche seines Lehrbetriebs. Mit Ende der Schulzeit begann er zu kochen. Die beiden machen ihre Lehre in gehobenen Restaurants. „Was wir machen“, sagt Kathrin, „ist nicht Standard-Schnitzel-Küche, sondern schon was Besseres.“

Vor allem im Englisch- und Französisch-Unterricht der Berufsschule fühlen sich die beiden unterfordert. Zwar lernt man hier berufsbezogene Sprache und die Kochbegriffe. „Doch dafür“, sagt Kathrin, „würde auch eine Vokabelliste reichen.“ Abgesehen davon läuft der Sprachunterricht auf Unterstufenniveau. In der ersten Einheit gab es eine Vorstellrunde: Jeder musste einen Satz mit einem Eigenschaftswort sagen, das mit demselben Buchstaben beginnt wie der eigenen Name. Carlos sagte: „I’m Carlos and I’m not a Christian.“ Kathrin sagte: „I’m Kathrin and I’m kind.“

Beide haben versucht, sich Fächer, die sie bereits in der Schule absolviert hatten, anrechnen zu lassen. Ohne Erfolg. „Es braucht einen schriftlichen Nachweis“, sagt Carlos, „der belegt, dass wir jedes Thema, das im Lehrplan vorgesehen ist, schon in der Schule gemacht haben. Und das geht halt nicht.“ „Sie wollten“, sagt Kathrin, „meine alten Schulbücher sehen. Aber die hab ich nicht mehr.“ Laut der Direktorin der Berufsschule Waldegg, Martha Umhack, muss man sich bei jedem Schüler individuell ansehen, ob sich ein bereits am Gymnasium abgeschlossenes Fach mit dem Lehrplan an der Berufsschule deckt. „Auch mit einer Englisch-Matura habe ich nicht das gesamte Küchenvokabular, das ich hier lerne.“ Berufsschulfächer wie „Deutsch und Kommunikation“ oder „Politische Bildung“ hingegen seien typische Gegenstände, die mit einer Matura bereits abgedeckt seien. Alfred Freundlinger von der WKO hinterfragt die Sinnhaftigkeit des Anrechnungssystems. „Da bin ich als Berufsschüler dann von einem Fach befreit. Aber was bringt’s? Ich hab dann ein Loch von ein paar Stunden im Stundenplan.“ Sinnvoll könne man das kaum nutzen, so Freundlinger. Denn in der frei gewordenen Zeit gehe es sich für die Lehrlinge etwa meist nicht aus, vom Internat in die Lehrbetriebsstätte zu fahren.

Es gibt allerdings auch Fächer in der Berufsschule, die neu sind für Maturanten wie Carlos und Kathrin. Etwa Rechnungswesen, Ernährungswissenschaften oder Speisemenükunde. Allgemein sind die beiden vom Niveau und der Qualität der Lehrer positiv überrascht.

Kathrin und Carlos lernen seit vergangenem Herbst Koch, einen Monat sind sie mittlerweile in der Berufsschule. Carlos im Internat, Kathrin fährt jeden Tag zwischen ihrem Zuhause und der Schule hin und her. Wie es ihnen hier geht? „Wenn man nicht raushängen lässt“, sagt Carlos, „dass man Matura hat, sind eh alle nett zu einem.“ Er komme mit allen gut klar. Jedes Jahr ein oder zwei Maturanten Patrick, 17, ist ein Schulkollege von Kathrin und Carlos. In der Klasse verstehe man sich super mit den beiden Maturanten. „Ganz normale Kollegen“, sagt er. Vor allem in den Fremdsprachen frage man sie um Rat. Auch Kochlehrer Mario stimmt dem zu. „Die Maturanten ziehen die anderen Schüler auf eine positive Art mit“, sagt er. Unter den 300 bis 400 Kochschülern gebe es jedes Jahr ein oder zwei Maturanten. Carlos und Kathrin glauben, dass sie vor allem die Motivation für den Beruf von den anderen Berufsschülern unterscheidet. „Viele der Kollegen machen die Lehre, weil sie keinen Bock auf Schule haben“, sagt Carlos. Nur bei einem Bruchteil spüre er, dass sie wirklich Koch werden wollten.

Ob Carlos und Kathrin genervt sind, dass sie nach der Matura wieder in die Schule müssen? Wäre es ihnen lieber, nur im Lehrbetrieb zu sein? Nein, sagen beide. Musterschüler waren weder Kathrin noch Carlos. „Aber jetzt bin ich motiviert und will schon auf alles Einser haben“, sagt Carlos. „Da gibt’s dann auch hundert Euro“, sagt Kathrin.

Wer sich nach der Matura für eine Lehre entscheidet, hat grundsätzlich die Möglichkeit, seine Lehrzeit um ein Jahr zu verkürzen, muss sich aber mit dem Lehrbetrieb darauf einigen. Auch die Berufsschule dauert ein Jahr kürzer – man kann direkt in der zweiten Klasse einsteigen. In einigen Lehrberufen gibt es eigene Berufsschulklassen für die verkürzte Lehrzeit: In Wien etwa bei den Berufen Konditor, Bürokaufmann/-frau und Reisebüroassistent. Initiativen zur Lehre nach Matura gibt es vor allem auf Ebene der Bundesländer. In Tirol gibt es etwa ein Pilotprojekt mit besonderer Beratung und Begleitung. In der Steiermark wird mit dem Modell „Technical Experts“ versucht, gezielt Maturanten für die Lehrberufe Mechatronik und Metalltechnik zu gewinnen. In einigen Lehrberufen sind in den Kollektivverträgen für Maturanten höhere Lehrlingsentschädigungen vorgesehen. Für Unternehmen, die ihnen freiwillig den höheren Hilfskräftelohn zahlen, gibt es eine spezielle Förderung des AMS, alternativ auch Lehrbetriebsförderungen.

derstandard.at/2000065492175/Immer-mehr-Jugendliche-machen-nach-der-Matura-eine-Lehre (2017-10-23, 22.51)